Persönlicher Kommentar
Ein Reformkanzler nimmt Anlauf - wohin denn?!
Friedrich Merz ist seit Jahren eine zentrale Figur in der deutschen Politik, die polarisiert, überzeugt und vor allem Geduld mitbringt. Als Vorsitzender der CDU hat er sich den Ruf eines Reformers erarbeitet: pragmatisch, marktwirtschaftlich orientiert und unbeeindruckt von überholten Routineprozessen. Die Frage, ob Merz tatsächlich als Reformkanzler in Frage kommt, hängt weniger von der rhetorischen Brillanz seiner Reden ab als von der Bereitschaft, tiefer liegende, oft unbequeme Veränderungen anzugehen – sowohl innerhalb der Partei als auch im politischen System. Die Aktivitäten der bisherigen Tage und Wochen zeigen jedoch nur einen Bruchteil dieser notwendigen Bereitschaft. Offenbar versucht er durch einen Mix aus Programminhalten, auch der Parteien, die er ehemals kritisiert hat, seine Zielsetzung zu verfolgen.
Ein Reformkanzler muss vor allem drei Dinge liefern: Klarheit, Mut und Kontinuität. Klarheit darüber, wohin man die Republik führen will; Mut, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn langfristig notwendige Weichen gestellt werden müssen; Kontinuität, damit politische Projekte nicht am nächsten knappen Dialog scheitern. Merz betont immer wieder wirtschaftliche Vernunft, Haushaltsdisziplin und Wettbewerb als Treiber des Wohlstands. Das klingt nach einem Programm, das in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit Antrieb geben könnte. Dient dieses Programm aber auch den Menschen, die von sozialen politischen Netzwerken getragen werden sollten? Denjenigen, die nach jahrelanger Sozialversicherungspflicht am Ende eines Arbeitslebens nur mit Bruchteilen des vorherigen Einkommens auskommen müssen? Wohl kaum, zumal die Fallstudien, die Merz offenbar als Basis für seine Entscheidungsfindung dienen, nicht dieser Klientel entsprechen.
Fazit ist, diese neue Art von Reform benötigt mehr als nur Zahlen und Paragrafen. Sie braucht eine Erzählung, die Menschen mitnimmt. Merz’ Auffassung von Reformen wirkt oft analytisch und zielgerichtet, was Stärke ist – aber nur solange es gelingt, die gesellschaftliche Rückbindung nicht zu verlieren. Reformpolitik ohne soziale Rückversicherung entwickelt sich sehr schnell zum Risiko: Wer von Wettbewerbsfähigkeit spricht, muss auch erklären, wie der Einsatz für soziale Sicherheit nicht verloren geht. Und hier besteht noch erhöhter Erklärungsbedarf.

