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Persönlicher Kommentar

Gerade am Tag der deutschen Einheit: Migration schätzen

Auch wenn nach fast 35 Jahren noch immer nicht alles zusammengewachsen ist, was zusammengehört und nicht alle Landschaften blühen: Deutschlands Wiedervereinigung sendet positive Signale aus.

Der eine (Helmut Kohl) versprach „blühende Landschaften“, die nach 1989 sprössen. Der andere (Willy Brandt) hoffte, dass „zusammenwächst, was zusammengehört“. Beide Ex-Bundeskanzler der alten Republik unterschätzten dabei wohl die Aufgabe, vor der das Land und vor allem seine Bürgerinnen und Bürger nach solch langer Zeit getrennter Sozialisation, seither und bis heute (noch) stehen: Auch gut eine Generation nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist das Werk noch nicht wirklich vollbracht – im Gegenteil: An manchen Ecken sitzt der Spaltpilz erneut im Gebälk.

Dem gilt es zu widerstehen: indem wir – endlich – lernen, einander zuzuhören, indem wir unsere Verschiedenheiten als Bereicherungen entdecken. Indem wir unseren Horizont erweitern und jene guten Beispiele würdigen, die uns unsere Geschichte bietet:

Ein wirklich gelungenes Beispiel guter Integrationspolitik gibt es am Rhein. Wo der Neckar in den Strom mündet, schuf nach 1649 Kurfürst Karl Ludwig bei seiner Rückkehr aus dem Exil aus Mannheim ein Musterbeispiel fürs Zusammenleben unterschiedlichster Ethnien und Religionen. Binnen eines Jahrzehnts errichteten die Menschen die badische Stadt nach den Plänen des aus Den Haag stammenden Ingenieurs Jacob van Deyl – eine am Reißbrett geformte neue Heimat.

Hier lebten Menschen aller Herren Länder und Religionen. Ein Viertel war deutsch, knapp zwei Drittel französisch, der Rest waren Niederländer, Portugiesen oder Familien, deren Herkunft nicht eindeutig war. Mannheim war eine multikulturelle Stadt und zeigt uns – bis heute – die Fehler unserer modernen Migrationspolitik: Es mangelt uns an Visionen und Plänen für die Zukunft. Der Kurfürst in Baden und sein Architekt aus Holland waren den modernen Politikern voraus. Die „Zeit“ schrieb darüber: „Wie ein roter Faden zog sich die Formulierung ‚ohne Unterscheid von Nationen‘ durch die Artikel der Privilegien von 1652“.

Der Stadtplan von Mannheim ist mehr als ein Lagebild von Straßen und Häuserzeilen. Er ist ein Symbol des Gemeinschaftslebens: „So streng geometrisch der Grundriss Mannheims auch war – eine konfessionelle oder anderweitige Unterteilung gab es nicht. Alles wohnte bunt gemischt. Das verlief natürlich nicht ohne Zank und Hader. Sprachliche Missverständnisse, die Herkunft aus ganz verschiedenen Rechtskreisen, abweichende Erziehungs-, Ausbildungs- und Gewerbetraditionen: viel Konfliktpotenzial.“

Es hielt die Bürger dieser Multikulti-Stadt nicht ab, ihr Experiment, von dem wir noch heute

lernen können, konsequent zu verfolgen. „In den 1650-er Jahren ist aus der Zusammensetzung des Rats ersichtlich, dass die oft beschworene Formel ‚ohne Unterscheid von Nationen‘ tatsächlich Wirkung gezeigt hatte. Bereits 1655 berücksichtigte man bei der Kandidatenauswahl für den Rat die Zuwanderer. So wurden ein Wallone, ein Franzose, ein Niederländer und ein Mann aus Lüttich nominiert: Für den Niederländer entschied man sich wegen seiner Erfahrungen als Prokurator in Vlissingen. Für den Wallonen sprach, dass ‚er einer von den ersten Fremdlingen [war], so ihr Heil allhie gewagt, [und] auch den größten Anhang unter den Wallonen‘ besaß. Ein weiterer Kandidat schien geeignet, weil er sich in allen Sprachen erfahren und auch des Pfälzer Landes und seiner Gebräuche kundig zeigte.“

Dieser Mix seiner Stadtbürger brachte Mannheim Erfolg. Die Stadt wuchs, der Handel blühte. Die Bürger konnten dem Kurfürsten von „ein solche gute harmonia under so vielerley nationen“ berichten.*

Ein Beispiel, von dem wir jenen erzählen sollten, die heute Zuwanderer und Geflüchtete ausgrenzen. Auch das muss eine Lehre aus der Wiedervereinigung Deutschlands sein.                                                                  

*Die kursiv gesetzten Textteile sind ein Auszug aus dem Buch „Wir schaffen das  -  aber so nicht“, das der Autor 2016 veröffentlicht hat.

Autor/in:
Gerd Pfitzenmaier
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