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Untaugliche Grenzwerte

Die staatliche Schutz- und Fürsorgepflicht gemäß Grundgesetz wird der heutigen Bedeutung des Themas in keiner Weise gerecht und versagt im Bereich der hochfrequenten Mobilfunkstrahlung auf vielfältige Weise. Dies lässt sich anhand der hier geltenden 26. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (26. BImSchV) belegen.

1. Einseitiger und selektiver Schutz
Der Schutzumfang der 26. BImSchV fußt auf den Richtlinien der ICNIRP (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection). Deren Begründungen zum Schutz des Menschen basieren lediglich auf der Wärmewirkung durch Mobilfunkstrahlung, da hier der physikalische Ursache-Wirkung-Zusammenhang nachvollzogen werden kann, wenn beispielsweise Zellen in Körpergeweben durch erzeugte Wärme absterben (Mikrowelleneffekt). Dieser Schutz ist zunächst wichtig und richtig.

Doch schon lange ist bekannt, dass neben den physikalischen Wirkungen vielfältige biologische und bioelektrische Effekte durch Mobilfunkstrahlung in lebenden Systemen stattfinden. Die Beeinflussung der Hirnströme wird als wissenschaftlich ausreichend nachgewiesen angesehen. Für weitere Effekte, wie beispielsweise die Beeinflussung der Durchblutung des Gehirns, die Beeinträchtigung der Spermienqualität, eine Destabilisierung der Erbinformation sowie für Auswirkungen auf die Expression von Genen, den programmierten Zelltod und oxidativen Zellstress werden deutliche Hinweise gesehen. (1) Ergänzt durch große Studien an Zellen und Tieren ist belegt, dass die derzeitigen Grenz- und Richtwerte zur Hochfrequenz-Exposition keinen ausreichenden Schutz der menschlichen Gesundheit leisten können. Wissenschaftler folgern daraus, die WHO müsse Funkstrahlung als „krebserregend für Menschen“ einstufen. (2) Dieser Wirkungskomplex wird nicht beim Grenzwert berücksichtigt.

Während ein spezielles Gesetz die elektromagnetische Verträglichkeit zwischen technischen Geräten klar regelt (Elektromagnetische-Verträglichkeit-Gesetz - EMVG), klaffen beim Schutz für lebende Systeme große Lücken.

2. Keine Konkretisierung der Vorsorge
Das Vorsorgeprinzip ist einer der Grundsätze der Umweltpolitik. Es verfolgt über die Schadensbeseitigung und Gefahrenabwehr (Schutzgrundsatz) hinaus, dass eine potenziell umweltbelastende Verhaltensweise unterbunden werden soll, wenn ihre Umweltschädlichkeit nicht unwahrscheinlich oder denkbar ist. Es sind auch solche Schadensmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, für die noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotenzial besteht. (3) Umweltgefahren oder -schäden sollen möglichst gar nicht erst eintreten können.

Diese auch EU-weit eingeführte Vorsorge (4) ist in der 26. BImSchV bei der Regulierung von Mobilfunkfrequenzen nicht konkretisiert und wird lediglich für den Bereich der niederfrequenten Felder (ansatzweise) umgesetzt. Dieser eklatante Mangel wiegt besonders im Hinblick auf die zuvor genannten gesundheitlichen Effekte. Vorsorge ist auch deshalb notwendig, da bisher lediglich die einzeln einwirkenden Noxen isoliert betrachtet werden, ohne die mögliche Relevanz einer Gesamtbelastung zu berücksichtigen.

3. Kein Schutz von Risikogruppen
Üblicherweise werden bei einem Grenzwert verschiedene Risikogruppen berücksichtigt. Am Beispiel „Kinder“ kann die fehlende Berücksichtigung besonders herausgestellt werden: wiederholt wird von offiziellen Stellen betont, dass sich die derzeitige Ableitung eines „ausreichenden“ Schutzes gegenüber Mobilfunkstrahlung lediglich auf Erkenntnisse zu Erwachsenen bezieht; sowohl Kinder als auch Langfristwirkungen könnten noch nicht genügend abgeschätzt werden. Klare Aussagen zu der besonderen Betroffenheit der „Risikogruppe Kinder“ liegen jedoch vor (5) und betreffen auch die unzureichende Ableitung des SAR-Wertes. Heraus fallen auch die Menschen, die mit Beschwerden und Krankheiten auf Mobilfunkstrahlung reagieren (Elektrohypersensibilität - EHS).

4. Kein Schutz für Tiere und Pflanzen
Schon lange sind vielfältige Einwirkungen und Schäden auf Flora und Fauna bekannt. Auch wenn in einzelnen Fällen die Formulierung eines Richt- oder Schwellenwerts schwierig sein mag, der Schutzumfang der 26. BImSchV versagt jedweden Schutz für Flora und Fauna.

5. Begrenzter Anwendungsbereich
Die in der 26. BImSchV erfassten Mobilfunkanlagen unterliegen nicht den weitergehenden Anforderungen zum Schutz vor Gefahren und zur Vorsorge, wie dies für die genehmigungsbedürftigen Anlagen nach BImSchG gilt. Vergleichbar ist dieser Schutz-Level mit den Anforderungen an eine häusliche Feuerungsanlage (Kaminofen). Gerade die technische Entwicklung hin zu einem allumfassenden Kommunikationsnetz erfolgt zunehmend mit Anlagen außerhalb von Genehmigungs- und Anzeigepflichten. Beispielsweise können Small Cells eines zukünftigen 5G-/6G-Netzes unterhalb einer abgestrahlten Leistung von 10 W äquivalente isotrope Strahlungsleistung (EIRP) zukünftig ohne Genehmigung bzw. Standortbescheinigung durch die Bundesnetzagentur im öffentlichen Raum installiert werden. Auch die mögliche Exposition Betroffener durch die neue Antennentechnik mit Richtstrahlcharakter (Beamforming) ist noch nicht überprüft.

Außerdem wird mit den in der 26. BImSchV genannten Anlagen der stark wachsende Bereich vielfältiger Geräte der Kommunikationsinfrastruktur nicht erfasst, die oft in Körpernähe zu einer kritischen Exposition führen, obwohl die Sendeleistungen vergleichsweise geringer sind (wie WLAN-Router, Smartphone, Smart Meter).

6. Gefahrenbewertung nur von Seiten der Mobilfunkindustrie
Die Begründung für die Erforderlichkeit bzw. Angemessenheit der Mobilfunk-Regulierung bleibt unmittelbar bis ausschließlich der wissenschaftlichen Expertise der ICNIRP überlassen. Diese Organisation bzw. die tätigen Personen wurden bereits als „ICNIRP-Kartell“ benannt. (6) Eine umfassende Risikobewertung auch durch unabhängige Wissenschaftler liegt der 26. BImSchV nicht zugrunde.

7. Forderungen
Der komplette Bereich der mobilen Kommunikations-Infrastruktur muss hinsichtlich seiner möglichen Wirkungen auf Menschen, Flora und Fauna neu geregelt werden sowie alle Anlagen, Geräte und Anwendungen erfassen, ausreichend Schutz und Vorsorge vor Risiken enthalten bzw. alle technischen Minimierungen einfordern, die eine Belastung in Räumen, die dem Aufenthalt dienen, zuverlässig ausschließen (Schutz vor Indoor-Belastung).

Prof. Dr.-Ing. habil. Wilfried Kühling (Gastbeitrag)

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[1]                Schweizerische Eidgenossenschaft (2015): „Zukunftstaugliche Mobilfunknetze“, Bericht des Schweizer Bundesrates in Erfüllung der Postulate Noser (12.3580) und FDP-Liberale Fraktion (14.3149). S. 4. [www.bakom.admin.ch/bakom/de/home/das-bakom/organisation/rechtliche-grundlagen/bundesratsgeschaefte/zukunftstaugliche-mobilfunknetze.html; 16.03.2019].

[2]                Hardell, L.; Carlberg, M.; Hedendahl (2018): Kommentar zu technischen Berichten des National Toxicology Program (NTP) zu Untersuchungen über die Toxikologie und Karzinogenese bei einer Ganzkörperexposition von Ratten und Mäusen mit Mobiltelefonstrahlung. [https://www.emfdata.org/de/dokumentationen/detail?id=216; 03.01.2020].

[3]                So die ständige Rechtsprechung des BVerwG, Urteil vom 19.12.1985, 7 C 65.82 - BVerwGE BV72 300; Beschluss vom 20.11.2014, 7 B 27.14.

[4]                EU – Kommission der Europäischen Gemeinschaften – Mitteilung der Kommission (2000): Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips. KOM (2000) 1 endgültig, Brüssel, 2.2.2000. [http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2000:0001:FIN:DE:PDF; 02.10.2020].

[5]                Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (2018): Mobilfunk im Kinderzimmer, Berlin. [https://www.bund.net/service/publikationen/detail/publication/mobilfunk-im-kinderzimmer-eine-kritische-betrachtung/; 05.09.2019].

[6]                Schumann, H.; Simantke E. (2019): Wie gesundheitsschädlich ist 5G wirklich? Der Tagesspiegel v. 15.01.2019. [https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/mobilfunk-wie-gesundheitsschaedlich-ist-5g-wirklich/23852384-all.html; 15.10.2020].