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Vermerk und fachliche Einschätzung zur arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Lage aufgrund der „Corona-Krise“ und deren längerfristige Auswirkungen

I. Grundsätzliche Informationen / Sachlage

Stand 04.04.2020
Der Verfasser Kurt Rieder ist seit 40 Jahren in diversen Funktionen als Fachexperte und Führungskraft im Bereich der Arbeitsverwaltung tätig.

„Es zeigt sich, dass die Menschheit weder besiegt wird durch menschenähnliche Roboter-Armeen (starke KI), noch durch die Invasion von Außerirdischen, sondern dass sie akut bedroht ist durch zunächst harmlos erscheinende und dem menschlichen Auge verborgene Kleinstlebewesen und den ebenfalls nicht unmittelbar sichtbaren und sich langsam, aber kontinuierlich vollziehenden Raubbau des Heimatplaneten Erde bei gleichzeitig weiter gefordertem stetigem Wirtschaftswachstum mit dem Mantra mäßig vorgetragenen Argument, Arbeitsplätze zu retten.“ (Kurt Rieder)

Ende März 2020 wurde seitens der Bundesregierung im Eil-Verfahren ein Soforthilfe-Paket für durch die Corona-Pandemie betroffene Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschlossen.

Dieses umfasst derzeit ein Finanzvolumen von 158 Mrd. € und weiteren 2 Mrd. € für „Startup“-Unternehmen sowie zusätzlichen Mitteln von bis zu 26 Mrd. € aus den aktuellen Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit. Darüber hinaus wurden seitens der Bundesländer zusätzliche Darlehen, Kredite und Zuschuss-Möglichkeiten, ebenfalls in einem hohen Mrd.-Volumen in Aussicht gestellt.

Die Zuschüsse bzw. Darlehen sind insbesondere gedacht für durch die aktuelle Krise in Auftragsschwierigkeiten aller Art geratene Unternehmen und die dadurch betroffenen sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer. Bei den Arbeitgebern wird zusätzlich ein besonderer Fokus auf sogenannte KMU-Betriebe (=Klein- und Mittelständische Unternehmen) sowie auf Soloselbständige, Freiberufler und Startup-Unternehmen gelegt. Bei den Arbeitnehmern geht es vor allem darum: 1. Entlassungen durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld (KUG) zu vermeiden und 2. Beziehern von KUG oder Menschen ohne (derzeit) ausreichendem Einkommen den Zugang zur Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige zu erleichtern, indem sie sogenannte „aufstockende Leistungen nach dem SGB II“ ohne lange und komplexe Prüfungen auf Antrag erhalten. Letzteres gilt auch für Klein- oder Soloselbständige sowie Freiberufler und deren Familien.

Keinen Anspruch auf KUG haben Menschen, die nicht voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind (z.B. Mini-Jobber). Auch Auszubildende oder Praktikanten und Honorarkräfte sowie sogenannte „freie Mitarbeiter“ haben keinen Anspruch auf KUG. Diese Menschen stehen in der akuten Gefahr der sofortigen Entlassung bzw. es wurden bereits zum jetzigen Stand entsprechende flächendeckende Entlassungen umgesetzt.

Diese Personenkreise haben, genauso wie die KUG-Bezieher und ihre Bedarfsgemeinschaftsangehörigen“ die Möglichkeit, SGB II- Grundsicherungsleistungen für Erwerbsfähige (im Volksmund: „Hartz IV“) zu beantragen. Sofern allerdings das Gesamteinkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ (i.d.R. die Familie) zu hoch ist, sind sie von den Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Minijobber, Praktikanten, Honorarkräfte und freie Mitarbeiter (etc.) haben zudem auch i.d.R. keinen Anspruch auf SGB III (Arbeitslosengeld I) -Leistungen erworben und fallen deshalb ggf. ganz aus den Förderangeboten des Bundes heraus.

Von den in Aussicht gestellten Förder-Milliarden ebenfalls ausgeschlossen sind auch weiter beschäftigte Geringverdiener, (Klein-)Rentner und andere sogenannte nicht erwerbsfähige Personen, zuhause erziehende oder zuhause pflegende Personen sowie Menschen der sogenannten „stillen Reserve“, die zwar Arbeit suchen, aber keine öffentlichen Arbeitsmarktersatzleistungen erhalten. Viele dieser Menschen sind nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie zu viel verdienen oder an Rente erhalten, sondern weil sie gar nicht wissen, dass sie einen theoretischen Anspruch ggf. hätten, wenn sie denn einen Antrag stellen würden (und es sagt ihnen auch niemand).

Krisen-betroffen und auch nicht bei den Milliarden-Förderungen einbezogen sind auch bereits Bestands-Grundsicherungsempfänger, da hier die Angebote der „Bildung und Teilhabe für Kinder“ (z.B. kostenloses Mittagessen) oder „Tafel“-Angebote sowie freie oder vergünstigte Nutzung des ÖPNV sowie die Arbeitsgelegenheitsangebote entfallen. Auch sind diese am ehesten von Güterverknappung betroffen, da sie nicht die Möglichkeit haben, auf finanziell teurere Alternativen zurückzugreifen. Dagegen werden viele Arbeitnehmer und auch Soloselbständige, Freiberufler, Kunstschaffende und Menschen mit Kleingewerbe und deren Familien feststellen, dass sie mit KUG und aufstockender Grundsicherungs-leistung nach dem SGB II jetzt zum Teil (wesentlich) mehr „Einkommen“ haben, als in der Zeit ihrer normalen Beschäftigung, denn es wird seit langem in Fachkreisen vermutet, dass nur etwa knapp die Hälfte der Menschen, deren geringes Einkommen zu aufstockenden Leistungen der Grundsicherung berechtigt, auch einen Antrag auf diese Leistungen stellen. Ein wesentlicher Grund dafür war bisher die konkrete Prüfung nicht nur des Einkommens, sondern auch des Sach- und Barvermögens einschließlich Grund- und Hausbesitzeigentum. Diese Prüfungen sind momentan für mindestens ½ Jahr ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Freibeträge bei bestehendem Vermögen stark erhöht und öffentlich kommuniziert wurden. So hat jeder einen Vermögensfreibetrag von 60.000 €, die weiteren Bedarfsgemeinschaftsmitglieder darüber hinaus einen Freibetrag von 30.000 € pro Person. (von diesen Vermögen können die noch tätigen, weil systemrelevanten Arzthelferinnen, Kranken- und Altenpflegern, Verkäuferinnen und Bediensteten in Ordnungs- und Grundsicherungsämtern in der Regel nur träumen). Darüber hinaus werden, ebenfalls für ½ Jahr, alle angegebenen Kosten der Unterkunft und Heizung (egal ob zur Miete oder im Eigenheim) als notwendig anerkannt und keine Vergleichskosten mehr herangezogen.

Aufgrund der aktuellen Entscheidungslage ist damit zu rechnen, dass allein im Jobcenter der StädteRegion Aachen (ca. 500.000 Einwohner, davon derzeit ca. 55.000 in der Grundsicherung SGB II) mindestens 11.000 neue sogenannte Bedarfsgemeinschaften (mit mindestens doppelt so vielen Betroffenen) als Neuantragsteller kurzfristig in die Grundsicherung SGB II wandern und nach 6 Monate-Passiv-Bezug ohne jegliche Verpflichtungen, dort auch verbleiben werden. Die StädteRegion ist dabei ein guter Gradmesser für die Bundesrepublik Deutschland, da sie seit Jahren etwa 1% des bundesweiten Grundsicherungsetats sowie der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im SGB II ausmacht und somit der Gesamtbedarf bundesweit unkompliziert mit dem Faktor 100 hochzurechnen ist.

Die Bundesregierung hat die oben beschriebene Fehlsteuerung offensichtlich mittlerweile erkannt und eine Erhöhung des KUG nach 4 bzw. 7 Monaten Bezug um jeweils 10% beschlossen. Dieser „gut gemeinte, aber nicht gut gemachte“ Beschluss verschärft aber die ohnehin vorhandene Intransparenz im „Förderdschungel des Sozialstaats Deutschland“. Zu den oben genannten Zeitpunkten einer KUG-Erhöhung sind die Menschen schon lange im Grundsicherungsbezug. Die ständige Neuberechnung und Änderungsbescheid-Erstellung von weiterhin benötigten aufstockenden Grundsicherungsleistungen unter Prüfung von vorrangigen Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschuss, Wohngeld, Schüler- oder Studien-BAFÖG, BAB, tariflich verpflichtenden Arbeitgeberleistungen, Nebeneinkommen, unregelmäßigen Einkommen, Familienstands-Änderungen und vielem mehr lähmt die zuständigen Verwaltungen bei ihren originären Aufgaben und baut Bürokratie nur weiter unnötig auf statt ab. Die jetzt getroffene Regelung verhindert keinesfalls das „unkontrollierte Einströmen“ ins SGB II, zumal die Zugangs- und Prüfkriterien ins SGB II weitestgehend außer Kraft gesetzt und Kontrollmechanismen zur Missbrauchsbekämpfung (wie beispielsweise alle Ermittlungsdienste oder Sanktionsprüfungen, persönliche Meldungen, Ortsabwesenheitsmeldungen etc.) b.a.w. ausgesetzt sind – ohnehin ist hierfür auch in „normalen Zeiten“ kaum Personal vorhanden. Die ÖDP fordert daher die Erhöhung des Kurzarbeitergelds in Krisenzeiten wie „Corona“ für einen eng begrenzten Zeitraum (3-4 Monate) auf 100% ab Beginn der Kurzarbeit.

Die anderen o.g. Personengruppen, die nicht von den Förder-Milliarden profitieren, dafür jedoch zum großen Teil in einer Pandemie-Krise durchgehend unter teilweise extremen Bedingungen weiterarbeiten, Überstunden ableisten und sich zusätzlich noch hohen Gefahren einer eigenen Ansteckung (bzw. ihrer Familien) ausliefern müssen, bilden zwar das sogenannte „Rückgrat“ der Gesellschaft, sind die „ehrenhaften Loser“ dieser Krise. Zu diesen Personengruppen sind insbesondere auch die in der Familie oder ehrenamtlich Pflegenden und Erziehenden zu zählen.

Die jetzige „Corona-Krise“ verschärft und beschleunigt ohnehin seit Jahren bestehende Tendenzen:

  • Zunehmende Automatisierung, Digitalisierung und Robotorisierung der Arbeitswelt; der Faktor „Human Ressources“ wird nicht nur mehr als Teuerungsfaktor gesehen, sondern als Risikofaktor; dies belegt eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)
  • Zunehmender Einsatz von KI, gerade auch in Berufs- und Arbeitsbereichen, in denen seit Jahren und auf lange Sicht kaum noch Fachkräfte zu rekrutieren oder bei denen adäquate finanzielle und soziale Ausstattung mit Fachkräften zu teuer sein werden (Verkauf, Pflege, Produktionen, anderweitige Dienstleistungen und Beratungen)
  • Erwerbsfähige Menschen machen zunehmend die Erfahrung, dass sich - rein finanziell betrachtet - eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit gegenüber einem Passivleistungs-bezug durch öffentliche Lohnersatzmittel nicht mehr lohnt. Im Gegenteil: in etlichen Fällen gibt es bei (Wieder)-Aufnahme einer sv-pflichtigen Beschäftigung teilweise (massive) Einbußen im finanziellen Gesamtetat der sogenannten „Bedarfsgemeinschaft“ durch den Wegfall von Freibeträgen, Wohn- und Energiekosten, Bildungs- und Teilhabekosten, Mobilitätskosten etc.
  • Zunehmende Versingelung der Gesellschaft, da die derzeitigen Grundsicherungsleistungen allesamt keine Individualleistungen sind, sondern geknüpft sind an die offizielle (!) Wohn- und Lebenssituation (Bedarfsgemeinschafts-Prinzip: man trennt sich offiziell, wenn einer verdient und für den anderen aufkommen muss).
  • Zunehmende Intransparenz in der Arbeitsförderung und Sozialgesetzgebung durch immer mehr „Spezialregeln“, „Spezialleistungen“ und „Spezialbehörden“ mit ihren Vorrangig- und Nachrangigkeits-Systemen
  • Zunehmend größer werdende Anspruchsgruppe in der Grundsicherung (allerdings gehen Experten davon aus, dass in „Normalzeiten“ lediglich die Hälfte bis hin zu einem Drittel lediglich die Leistungen auch beantragen und erhalten, denen sie grundsätzlich zustehen würden. Die anderen beantragen aus Scham, Unkenntnis, Intransparenz und weiteren Gründen erst gar nicht).
  • Zunehmende Unsicherheiten bei der (Arbeits-)Lebensplanung durch zunehmend prekäre Beschäftigungen, Unterbrechungen von Beschäftigungszeiten, zunehmenden Arbeitsverhältnissen in Form von Geringfügigkeit (ohne volle SV-Pflicht), Honorartätigkeiten oder als „freier Mitarbeiter“; daraus resultierend: wachsende Risiken in den Sozialversicherungen durch immer weniger Versicherer, die kontinuierlich relative gleichbleibende SV-Beiträge einzahlen und damit verbunden höhere Risiken in den sogenannten „Solidarversicherungssystemen“ im Versicherungsfall.
  • Zunehmende Bürokratie durch neue Hilfs-, Steuerungs- und Finanzsysteme statt Bürokratie- und Verwaltungsabbau (Stichwort: „starker Staat“, in diesem Zusammenhang nicht gemeint als Überwachungsstaat)
  • Befürchtete radikale Kehrtwende in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik für Langzeitarbeitslose, Langzeitleistungsbezieher und Menschen mit (dauerhaften) gesundheitlichen Einschränkungen wie Erwerbsgeminderte oder Teil-Erwerbsunfähige; Abkehr vom Grundsatz, diesen Menschen durch sinnvolle, wertschöpfende Tätigkeiten (wieder) eine Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Die letztgenannte Gefahr droht schon zeitnah, da befürchtet werden muss, dass die staatlichen, landesrechtlichen und EU-Mittel nach der Großfinanzierung der „Corona-Krise“ nunmehr zur Firmenrettung und zur Wiedereingliederung und notwendigen Fortbildung von arbeitsmarktnahen Personen eingesetzt werden muss.

Schon sehr bald stellt sich die Frage, wer diese hunderte von Milliarden schweren Zuschüsse und Kredite welt-, europa- und deutschlandweit refinanzieren wird. Es ist naheliegend, dass diejenigen, die bereits in den letzten Jahrzehnten das Rückgrat der Gesellschaft(en) darstellten, nunmehr wieder massiv durch Lohn- oder Rentensteigerungsverzicht, Sondersteuern bzw. Steuererhöhungen und erhöhte Sozialversicherungsabgaben zur Kasse gebeten werden. Es droht die Überbeanspruchung der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ (an dieser Stelle wurde bewusst auf das Wort „Verelendung“ verzichtet, da dieser Begriff zumindest für Deutschland als zu extrem gewählt erscheint, in anderen Ländern oder aber Kontinenten sicherlich eine treffende Bezeichnung ist).

Forderungen der ÖDP, die sich durch das oben Beschriebene ableiten, liegen auf der Hand:

1. Direkte Umsetzung eines erhöhten, zeitlich befristeten Kurzarbeitergeldes.

2. Wegfall der 450 € - Beschäftigungen (die im Krisenfall nichts wert sind, so gut wie keine späteren Ansprüche in der Sozialversicherung generieren und die das Einfalltor für „Schwarzarbeit/illegale Beschäftigung“ darstellen).

3. Einbeziehung aller Erwerbspersonen (auch die im eigenen Haushalt Pflegenden und Erziehenden) durch ein sv-pflichtiges Erwerbseinkommen; Volle SV-Pflicht für alle Arten von Selbständigen, Freiberuflern und Honorarkräften und auch der Beamten unter Beibehalt bisheriger Ansprüche.

4. Mittelfristige Validierung und Sicherung des sozialen Sicherungssystems ist notwendig. Denn die Zahl an Menschen, die Grundsicherungen verschiedenster Art erhalten, wächst stetig. Zudem hätten laut Erkenntnissen einschlägiger Fachinstitute wie dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) etwa dreimal so viele Menschen Anspruch auf Leistungen, beantragen oder erhalten diese aber aus Unwissenheit, Scham, hohen Hürden bei der Antragstellung oder anderen Gründen nicht. Die ÖDP fordert vordringlich für Personen, die über kein oder ein zu geringes eigenes Einkommen verfügen können, ein ausreichendes Grundeinkommen. Dazu zählen für uns insbesondere Kinder, Rentnerinnen / Rentner und Erwerbsunfähige. Solange das Erziehungs- und Pflegegehalt nicht verwirklicht ist, gehören auch Erziehende und Pflegende dazu.

5. Gleichzeitiger Abbau des bestehenden „Förderdschungels“ und damit einhergehendem Bürokratieabbau und Stärkung der Transparenz des Sozial- und Arbeitsmarktsystems.

6. Abkehr vom Dogma des „ungezügelten, globalen Freihandels“ - hin zu einer mehr regionalen, zumindest aber kontinental gesicherter Produktion, die entsprechend ökologisch, sozial und krisengesichert gestaltet ist. Stärkung des Kartellgesetzrechtes, sodass die zunehmende Konzentration auf einige wenige Unternehmenskriterien gestoppt und zurückgeführt wird. Verbot von Leerverkäufen und „Wetten“ im Börsenmanagement 6. Weiterer permanenter Ausbau von Fortbildung, Umschulung, Aus- und Weiterbildung auf allen, nicht nur beschäftigungsorientieren, sondern auch gemeinwohlorientierten Gebieten als notwendigem Bestandteil einer zukunftsorientierten, modernen und nachhaltigen Gesellschaft.