61. ÖDP-Bundesparteitag in Würzburg

Liebe Delegierte des 61. Bundesparteitages in Würzburg!

Eine fast ausgestorbene Spezies ist zurück: das Einkaufsnetz. Einige seltene Exemplare haben die letzten Jahrzehnte in Reservaten -- etwa in diversen ÖDP-Haushalten -- überlebt, doch nun gibt es sie wieder in jedem Supermarkt. Die Menschen scheinen die Nachhaltigkeit wieder entdeckt zu haben. Nein, die Einkaufsnetze allein werden diesen Planeten nicht retten und in zu vielen anderen Bereichen steht uns die Wiederentdeckung solcher vom Aussterben bedrohten Spezies noch bevor. Als vor 50 Jahren der Bericht des Club of Rome erschien, war darin nicht nur von den Grenzen des Wachstums die Rede, also von der Problembeschreibung. Nein, es wurde auf Hoffnung gemacht: „Wir müssen und können dagegen etwas tun.“

Hoffnung ist dieser Tage auch dringend nötig. Deutschland und Europa stöhnten in diesem Sommer unter der Hitze, die Welt hat Fieber, niemand kann das noch übersehen. Das Wasser wird knapp und nicht mehr „nur“ in Wüstenregionen, sondern hier, direkt bei uns. Unsere Energieversorgung ist bedroht, der Frieden und auch der soziale Frieden. Viele weitere Probleme ließen sich noch aufzählen.

Das Grundproblem: Wir handeln heute oftmals nicht mehr zielorientiert, langfristig, geplant, ganzheitlich und nachhaltig oder man könnte auch sagen: nicht strategisch. Und das ist in vielen Gesellschaftsbereichen der Fall, etwa in Wirtschaft, Sport und Politik. Da wird etwa Technologie in deutsch-chinesischen Joint Ventures quasi ausverkauft, weil der Shareholder Value den kurzfristigen Gewinn belohnt und nicht die langfristige Perspektive. Oder wir verlagern aus Kostengründen die Produktion etwa von Antibiotika fast komplett ins Ausland. Da wechseln heute Fußball-Spieler alle paar Monate den Verein, weil bei einem jeden Wechsel der Spielerberater kassiert, anstatt an eine langfristige und nachhaltige Ausbildung des Sportlers zu denken. Und da begeben sich unsere Regierungen in Abhängigkeiten einzelner Energielieferanten, anstatt hier einen Mix vorzunehmen und vor allem, die Erneuerbaren Energien auszubauen, die uns weitgehend autark machen und ein wesentlicher Baustein für den Klimaschutz sind. Doch auch hier zählen kurzfristige Effekte, die nächste Wahl erscheint wichtiger als die Perspektive in Generationen. Man fährt lieber auf Sicht statt mit Karte, Kurs und Kompass.

Wer hingegen nachhaltig denkt und handelt, der galt lange als rückständig und unmodern. Wozu denn ein Einkaufsnetz nutzen, wenn es die Plastiktüte umsonst gibt? Wozu etwas aufheben oder reparieren, wenn Neues doch weniger kostet. Wir wurden so zur Wegwerf-, Konsum-, Leistungs- und Geizgesellschaft. Gewinnmaximierung wurde zur obersten Maxime. Dabei sägen wir mit diesem Verhalten nur am Ast, auf dem wir alle sitzen und keiner kann entkommen, wenn die Party vorbei ist.

Dabei, wir ÖDPler sagen es immer wieder, gilt Gandhis Zitat: „Die Welt hat für genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Das Einkaufsnetz ist zurück und das ist gut so. Doch das wird uns, wie gesagt, nicht retten. Viele Menschen bemühen sich, ökologischer, nachhaltiger zu leben. Doch selbst, wenn alle das täten, wird uns das nicht retten. Gerade auch in Politik und Wirtschaft muss nachhaltig, muss strategisch agiert werden. Und da kann eine Krise wie die aktuellen dazu dienen, uns ein Anstoß zu geben, dass wir umsteuern - besser spät als nie. Wie sagte John Naisbitt: „In stabilen Zeiten hat alles seinen festen Namen und festen Platz, deshalb lässt sich da nirgendwo ein Hebel ansetzen... Doch in den sogenannten Zwischenzeiten bieten sich schier unabsehbare Möglichkeiten.“ In so einer Zwischenzeit leben wir dieser Tage. Und dennoch besteht die Gefahr, dass unsere Regierung auch diese Zeit wieder nicht oder nur unzureichend nutzt. Neben manch positivem Ansatz ist das meiste aber zu wenig und zu zaghaft. Und die soziale Komponente ist viel zu wenig im Blick. Denn die ökologische und die soziale Frage gehören unbedingt zusammen. Für arme Menschen, allein jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf, ist es kaum möglich, sich zum Beispiel ökologisch und gesund zu ernähren. Wir sind für höhere Energiepreise, weil das tatsächlich zum Sparen animiert. Aber bitte nehmen wir doch dabei die großen Verbraucher in die Pflicht und fangen nicht nur bei denen an, die ohnehin kaum über die Runden kommen. Die Zahl der Armen nimmt rapide zu, weltweit und bei uns, die Milliardäre haben gleichzeitig ihre Vermögen verdoppelt. Das ist nicht gerecht und es ist auch keine Lösung der ökologischen Probleme. Denn die Reichen und die großen Konzerne sind auch die größten Umweltsünder. Oxfam weist nach, die Klimakrise wird von den Reichen vorangetrieben. “Für den Konsumrausch einer reichen Minderheit zahlen die Ärmsten den Preis. Die Reichsten sind es demnach, die ihr Verhalten ändern müssen, wenn wir unser Klima retten wollen.“ Deshalb sollten auch wir als ÖDP von den Reichen und von den Konzernen, welche die Krise vorantreiben ihren solidarischen Beitrag verlangen und unseren Fokus dorthin richten, auch um den sozialen Frieden zu wahren. Und wir müssen unsere Regierungen in die Pflicht nehmen, den Primat zurückzuholen und ja: zu steuern und zu regulieren. Das ist ihr Job.

Ihr/Euer
Christian Rechholz